WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Die 9. GWB-Novelle: Ein Wettbewerbsrecht auf der Höhe der Zeit

Die 9. GWB-Novelle: Ein Wettbewerbsrecht auf der Höhe der Zeit

Brigitte Zypries

Brigitte Zypries. © Susie Knoll
hbfm_wuw_2017_05_0225_a_123715_a001.png

Ludwig Erhard war der Überzeugung, dass „nur über den freien Wettbewerb die Kräfte lebendig werden, die dahin wirken, dass jeder wirtschaftliche Fortschritt und jede Verbesserung in der Arbeitsweise sich nicht in höheren Gewinnen, Renten oder Pfründen niederschlagen, sondern dass alle diese Erfolge an den Konsumenten weitergegeben werden“.

Zu Zeiten Erhards war diese Überzeugung noch keine Selbstverständlichkeit. In der deutschen Wirtschaft gab es in den 1950er Jahren noch Widerstand gegen das Kartellverbot. Angesichts der einzigartigen Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft sind solche Widerstände verstummt. Der Wettbewerb ist als Prinzip der Wirtschaftsordnung nicht mehr wegzudenken. Dies bedeutet aber nicht, dass er nicht immer wieder neuen Bedrohungen ausgesetzt ist. Deswegen muss das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gelegentlich auf die Höhe der Zeit gebracht und an die sich verändernden wirtschaftlichen Realitäten angepasst werden.

Dem Gedanken, dass alle am Erfolg der Wirtschaft teilhaben müssen – wir nennen das heute „inklusives Wachstum“ – und dass der freie Wettbewerb hierfür unabdingbare Voraussetzung ist, bleibt das GWB auch im 60. Jahr seines Bestehens verpflichtet.

Insbesondere die fortschreitende Digitalisierung stellt heute neue Anforderungen an die Wettbewerbspolitik. Sie führt dazu, dass in bisher unbekannter Geschwindigkeit Geschäftsmodelle verschwinden und durch neue ersetzt werden können. Skalen- und Netzwerkeffekte können über Erfolg und Misserfolg von Unternehmen und Branchen entscheiden.

Angesichts dieser Entwicklung stehen wir vor der Herausforderung, das Feld nicht einigen wenigen etablierten Unternehmen aus dem Silicon Valley zu überlassen. Wir wollen die Märkte offen halten für Start-ups und innovative Ideen. Nur so können alle von der Digitalisierung profitieren und nicht nur einzelne große Unternehmen. Was wir brauchen, ist eine moderne Ordnungspolitik für die digitalisierte Wirtschaft.

Die 9. GWB-Novelle ist ein Baustein dieser modernen Ordnungspolitik. Wir haben klargestellt, dass Netzwerk- und Skaleneffekte sowie der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten eine wesentliche Rolle bei der Bestimmung der Marktstellung eines Unternehmens spielen können. Damit kann das Bundeskartellamt noch zielgerichteter, schlagkräftiger und schneller gegen mögliche Missbräuche von Marktmacht in der digitalen Wirtschaft vorgehen. Zudem wird es künftig auch die im Internet weitverbreiteten Gratis-Geschäftsmodelle besser untersuchen können.

Der Innovationsdruck ist in der digitalen Wirtschaft erfreulicherweise besonders hoch. Dem sollen sich Unternehmen nicht ohne Weiteres entziehen können, indem sie ohne Prüfung durch die Kartellbehörden Wettbewerber übernehmen. Die Übernahme von WhatsApp durch Facebook hat deutlich gemacht, dass Unternehmen mit geringen Umsätzen enorme Marktbedeutung haben können. Werden sie durch ein etabliertes Unternehmen gekauft, kann dies für den Wettbewerb relevant sein. Daher wird sich das Bundeskartellamt künftig auch solche Zusammenschlüsse ansehen können, wenn der Transaktionswert über 400 Millionen Euro liegt. Es ist im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, die Vielfalt in der digitalen Wirtschaft zu erhalten.

Dem GWB kam in seiner Geschichte immer auch die Funktion eines Verbraucherschutzgesetzes zu. Deswegen ermöglichen wir es dem Bundeskartellamt mit der 9. GWB-Novelle, das Instrument der Sektoruntersuchung künftig auch dann anzuwenden, wenn in einer Branche systematische Verstöße gegen verbraucherschützende Vorschriften zu vermuten sind. Dies ist ein weiterer Schritt hin zu einem noch umfassenderen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher.

Der Schutz des Wettbewerbs lebt von wirksamen Sanktionen, die Unternehmen von Verstößen abhalten. Dies war bei Kartellrechtsverstößen zuletzt nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet. Konzernen ist es gelungen, durch gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungen und Vermögensverschiebungen die Zahlung von Bußgeldern zu umgehen. Dieses Problem ist als „Wurstlücke“ bekannt geworden. Es ist ein Gebot der Fairness, dass wir dieses Sanktionsdefizit mit der Novelle ausräumen, indem wir die europäische Systematik in das GWB übernehmen.

Dass Kartelle zu enormen Schäden für Unternehmen wie auch für Verbraucherinnen und Verbraucher führen, lässt sich eindrucksvoll an eingeklagten Schadensersatzansprüchen ablesen. Solche Klagen leisten einen wichtigen Beitrag zur Prävention. Indem wir die EU-Richtlinie zum Kartellschadensersatz umsetzen, verbessern wir die Position der Geschädigten deutlich. Mit einem Auskunftsanspruch werden sie künftig leichter an die notwendigen Informationen gelangen. Damit stärken wir die Geschädigten umfassend und verbessern die Möglichkeiten der außergerichtlichen Streitbeilegung.

Mit der 9. Novellierung ist das GWB eines der modernsten wettbewerbsrechtlichen Regelwerke der Welt. Es enthält ein fortschrittliches und flexibles Instrumentarium, um den Wettbewerb auch unter den besonderen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Sinne einer richtig verstandenen Ordnungspolitik zu verteidigen. Nun ist es an den Kartellbehörden und den Märkten, davon Gebrauch zu machen. So gewährleisten wir auch in Zukunft den freien Wettbewerb und die Teilhabe aller am Wohlstand, sodass die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft fortgeschrieben werden kann.