WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
9. GWB-Novelle und Digitalisierung: Innovative oder innovationshemmende Gesetzgebung?

9. GWB-Novelle und Digitalisierung: Innovative oder innovationshemmende Gesetzgebung?

Prof. Dr. Petra Pohlmann

Prof. Dr. Petra Pohlmann
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Mit der 9. GWB-Novelle, die die EU-Richtlinie zum Kartellschadensersatz umsetzen soll, verfolgt die Regierung ein weiteres Ziel: Sie will das GWB im Wettbewerb der Rechtsordnungen als innovative Kartellrechtsordnung positionieren, die manche Schwierigkeit im Umgang mit digitalisierten Märkten löst. Innovativ ist es, dass die „Facebook-WhatsApp-Lücke“ durch eine Aufgreifschwelle, die auf den Transaktionswert abstellt, geschlossen wird, und dass die mit der Digitalwirtschaft befassten Aufsichtsbehörden stärker zusammenarbeiten. Eher innovationshemmend könnte aber § 18 Abs. 2a des Regierungsentwurfs (RegE) wirken. Er lautet: „Der Annahme eines Marktes steht nicht entgegen, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird.“ Die Vorschrift erklärt das Kriterium der Unentgeltlichkeit zu undifferenziert für irrelevant und könnte damit einer Fortentwicklung des Kartellrechts im Wege stehen; sie sollte, wenn man nicht ganz auf sie verzichten will, vorsichtiger formuliert werden.

Dogmatisch zielt die Norm auf den ersten Blick nur auf die Marktabgrenzung ab. Die Praxis verneinte in mehreren Fusionskontrollfällen zum Fernsehen eine Marktbeziehung zwischen Zuschauer und Satellitenbetreiber, weil letzterer das Signal unentgeltlich an jedermann streut. Die Unentgeltlichkeit bewog auch das OLG Düsseldorf, im HRS-Fall die Hotelgäste nicht als Marktgegenseite zu berücksichtigen. Das Verhalten der unentgeltlichen Seite wurde in diesen Fällen aber durchaus in die weitere wettbewerbliche Würdigung einbezogen. In anderen Entscheidungen stand die Unentgeltlichkeit der Annahme eines Marktes nicht entgegen. Bei Plattformen (Partner- und Immobilienvermittlung) grenzte das Bundeskartellamt Vermittlungsmärkte mit zwei Nachfrageseiten ab, obwohl eine von ihnen nichts zahlte. Auch tendierte das Amt in Google/VG Media dazu, das Verhältnis zwischen Google und den Suchnutzern als Markt anzusehen. Die EU-Kommission nahm trotz Unentgeltlichkeit Märkte für soziale Netzwerke, Instant Messaging und andere internetbasierte Kommunikation an. § 18 Abs. 2a RegE verbietet es nun, nimmt man ihn beim Wort, aus Unentgeltlichkeit auf das Fehlen eines Marktes zu schließen. Das überzeugt in der Pauschalität nicht. Mit der Marktabgrenzung werden diejenigen Güter ermittelt, die die Machtposition des betreffenden Unternehmens am stärksten begrenzen. Es muss nicht immer falsch sein, in diesem Stadium bestimmte Austauschbarkeiten noch nicht zu berücksichtigen, sondern es kann eine sachgerechte Differenzierung sein, dies erst bei der weiteren Analyse zu tun. Diesen Weg würde § 18 Abs. 2a RegE verschließen, weil er es verbietet, die Unentgeltlichkeit als Argument gegen die Annahme eines Marktes heranzuziehen.

Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass der Marktabgrenzung die Prüfung vorgelagert sein kann, ob unternehmerisch gehandelt wird. Wenn z. B. Machtmissbrauch durch unentgeltliche Leistungen in Rede steht, ist zunächst zu klären, ob der Anbieter ein Unternehmen ist. Unternehmen ist jede Einheit, die wirtschaftlich tätig ist, also Waren oder Dienstleistungen auf einem Markt anbietet (im deutschen Recht wohl auch: nachfragt). In diesem Zusammenhang schließt die Praxis regelmäßig nicht von der Unentgeltlichkeit auf das Fehlen eines Marktes: Wer kostenlose Anzeigenblätter oder kostenlosen Service für Kreditkartenunternehmen anbietet, oder wer Programminformationen unentgeltlich an Programmzeitschriften weitergibt, wird als Unternehmen angesehen. Dann kann in der nachfolgenden Prüfung die Tätigkeit auf einem Markt nicht mehr verneint werden. § 18 Abs. 2a RegE würde dieser Praxis entsprechen, es aber noch weitergehend ganz ausschließen, die Unentgeltlichkeit als Argument gegen die Unternehmenseigenschaft anzuführen.

Dabei relativiert die Gesetzesbegründung den Wortlaut selbst: Es könne durchaus Fälle geben, in denen bei Unentgeltlichkeit kein Markt gegeben sei, nämlich dann, wenn „unentgeltliche Leistungen aus nicht-wirtschaftlichen Motiven angeboten [würden], ohne Teil einer zumindest mittelbar oder längerfristig auf Erwerbszwecke angelegten Strategie zu sein“ (S. 52). Das steht anscheinend im Widerspruch zu dem Urteil des EuGH im Fall Höfner und Elser, wonach die Unternehmenseigenschaft unabhängig von der Art der Finanzierung ist und eine unentgeltliche Tätigkeit, die nicht auf Erwerbszwecke angelegt ist, als unternehmerisch anzusehen sein kann. Ackermann und Roth haben im Frankfurter Kommentar aber überzeugend herausgearbeitet, dass trotz dieses Urteils die Kartellrechtsdogmatik bei unentgeltlichen Leistungen noch geschärft werden muss (Grundfragen des Kartellverbots, Rn. 41).

Insofern sollte auf eine Regelung verzichtet, zumindest aber das Gesetz vorsichtiger formuliert werden: Ein Markt kann auch vorliegen, wenn eine Leistung unentgeltlich erbracht wird. Das wäre zwar eine Regelung ohne starke Aussage, ließe aber die in der Begründung genannte Differenzierung zu. Es bliebe dann auch im Rahmen der Marktabgrenzung möglich, bestimmte unentgeltliche Beziehungen in anderer Weise zu berücksichtigen. Die Formulierung brächte einen weiteren Vorteil für die Kartellrechtsentwicklung mit sich: Überlegungen, worin in der digitalen Wirtschaft die Gegenleistung liegt, insbesondere ob Daten eine Gegenleistung sein können, würden nicht von vornherein mit dem Hinweis abgeschnitten, auf eine Gegenleistung komme es nach § 18 Abs. 2a RegE nicht an. Das wäre gerade zu einem Zeitpunkt wichtig, in dem man im Zivilrecht über Daten als Gegenleistung intensiv diskutiert.